Gendern im Kontext unserer verwandten Nachbarsprachen.
Wie Ihr sicherlich wisst, ist Deutsch eine germanische Sprache. Das Hochdeutsch zählt zu den westgermanische Sprachen, zu denen auch das Englische und das Niederländische zählen. Allen drei Sprachen ist gemein, dass sie bestimmte und unbestimmte Artikel haben, die grammatischen Geschlechtern zugeordnet sind. Die Nordgermanischen Sprachen (Dänisch, Norwegisch, Schwedisch) haben keine bestimmten Artikel, nur unbestimmte.
Alle drei westgermanischen Sprachen ähneln sich sehr, sowohl in der Struktur des Satzbaus als auch in vielen Begriffen. Viele Substantive, die Personen bezeichnen, wie z.B im Deutschen Maurer, Kämpfer und Zuhörer stammen von Verben ab, und das ist in allen drei Sprachen dasselbe. Um es “biblisch“ auszudrücken: Am Anfang war das Verb. Die Tätigkeit des Mauerns muss bekannt gewesen sein, bevor Personen, die diese Technik beherrschten, Maurer genannt werden konnten. Das ist doch logisch, oder? Dabei folgt die "Menschwerdung" des Verbs häufig einem festen Muster, indem nämlich am Stamm eines Verbs eine Endung angehängt oder modifiziert wird:
Deutsch | Englisch | Niederländisch |
kämpf*en > Kämpf*er | to fight > fight*er | vecht*en > vecht*er |
zuhör*en > Zuhör*er | to listen > listen*er | luister*en > luister*naar |
sprech*en > Sprech*er | to speak > speak*er | metsel*en > metsel*aar (Maurer) |
Das Englische unterscheidet bei Personen bezeichnenden Substantiven das Geschlecht praktisch nie: weder im Artikel (direkt: the, indirekt a) noch in der Wortendung. Ausgenommen sind natürlich Substantive, die direkt auf das Geschlecht einer Person verweisen, wie z.B. man, woman, girl, boy, etc. Es gibt ganz wenige Ausnahmen, wie z.B. actor (Schauspieler) und actress (Schauspielerin). Der natürliche Trend geht übrigens darin, dass auch Frauen als actor bezeichnet werden. Ansonsten kommt Geschlechtlichkeit nur bei den Personalpronomen zur Geltung (he, she, it). Und die Diskussion um geschlechtergerechte Sprache beschränkt sich auf die Personalpronomen (Formen wie s/he, he or she, oder ein they im Sindular). Die Engländer verstehen ihre personenbezeichnenden Substantive immer generisch (außer eben die, die direkt auf das Geschlecht hinwisen).
Die Niederländer haben zwei direkte Artikel (de für Personen und het als Neutrum), sowie einen unbestimmten Artikel (een für alle Geschlechter inkl. Neutrum). Auch die Niederländer unterscheiden in der Regel bei Substantiven, die Personen kennzeichnen, nicht das Geschlecht. Allerdings gibt es bei den Niederländern häufiger als im Englischen eine eigene Endung für weibliche Personen, z.B. leraar (Lehrer) und lerares (Lehrerin), kunstenaar (Künstler) und Künstlerin (kunstenares), kok (Koch) und kokkin (Köchin). Das Werkzeug zur Bildung eigener weiblicher Endungen ist vorhanden, und trotzdem wird es kaum genutzt. Man findet im Internet auch praktisch nichts zum Thema Gendern in den Niederlanden. Die Niederländer empfinden ihre Personen bezeichnenden Substantive offensichtlich wie die Engländer erst einmal als generisch, d.h. alle Geschlechter enthaltend, bzw. ist das Geschlecht irrelevant.
Schauen wir uns zwei Beispielsätze in den drei Sprachen an:
- Deutsch: Die Bürger wählen das Parlament. Die Soldaten verteidigen ihr Land.
- Englisch: The citizens elect the parliament. The soldiers defend their country.
- Niederländisch: De burgers kiezen het parlement. De soldaten verdedigen hun land.
Die Engländer und die Niederländer verstehen ihre o.g. Sätze als generisch bzw. geschlechtsneutral. Die große Mehrheit der Deutschen tut das ebenfalls. Die strukturelle Ähnlichleit der drei Sprachen begründet das generische Verständnis auch m Deutschen.
Das biologische Geschlecht ist erst einmal in den o.g. Begriffen nicht enthalten, sondern wird hineingedacht. Oder besser ausgedrückt: die Begriffe wecken Assoziationen bzgl. des Geschlechts. Und diese Assoziationen werden in allen drei Sprachen davon abhängen, wie stark Frauen in der Realität unter diesen Begriffen vorkommen. Ich denke, unter Maurern und Soldaten ist der assoziierte Frauenanteil deutlich geringer als unter Bürgern, und dies wird in allen drei Ländern ungefähr gleich sein, denn in allen Ländern liegt ein vergleichbarer soziokultureller Hintergrund vor. Jedenfalls wird die Vorstellung nicht davon abhängen, über welche Möglichkeiten zur grammatikalischen Feinauflösung von Geschlechtern eine Sprache verfügt.
Auszudrücken wäre biologische Geschlechtlichkeit in allen drei Sprachen, auch wenn es im Englischen keine und im Niederländischen nur wenige spezifisch weibliche Endungen gibt:
- Die Bürgerinnen und Bürger wählen das Parlament.
- The male and female citizens elect the parliament.
- De mannelijke en vrouwelijke burgers kiezen het parlement.
Wenn Engländer und Niederländer kein Bedürfnis haben, Geschlechter aufzuspalten und Geschlechtliches sichtbar zu machen, warum besteht diese Bedürfnis im Deutschen. Das Argument "nicht mitgedacht sein" kann es nicht sein. Denn das beträfe alle drei Länder gleich stark. Ist es möglicherweise so, dass Frauen unter dem generischen Maskulinum nicht mitgedacht werden sollen?
Deutschland geht mit dem Gendern jedenfalls einen linguistischen Sonderweg, der die Sprache massiv verkompliziert. Und das nur, weil es gesellschaftliche Interessengruppen gibt, die nicht möchten, dass Frauen in generischen Begriffen mitgedacht werden, die in der Deutschen Sprache ein maskulines grammatisches Geschlecht haben.
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