Quergendern
(Rück-)Wege zu einer spalt* ungsfreien  Sprache

Groteske Zeiten.

Rückblick aus einer nahen Zukunft auf das Jahr 2021

Eine Gesellschaft konstruiert ihre Sprache um. Menschen werden plötzlich ständig und konsequent in zwei Geschlechter aufgespalten. Sonderzeichen werden in Wörter eingefügt und so zwei- bis dreizwittrige Begriffe geschaffen. Aussprachen werden neu erfunden. Man begnügt sich damit, dass Aussprache nur bei der Bezeichnung mehrerer Individuen möglich ist und fabriziert ein unaussprechliches sonderzeichengespicktes Endungskuddelmuddel, wenn nur eine Person als Person unabhängig vom Geschlecht gedacht ist. Menschen wie Lehrerinnen und Lehrer werden sprachlich entmenschlicht und als Lehrende in Grammatikformen (Partizipien) oder als Lehrkräfte in Sachbegriffe verwandelt. Ich fühle mich in einen Roman der Amerikanischen Postmoderne versetzt, der von David Foster Wallace hätte geschrieben sein können. Aber es ist leider kein "Unendlicher Spaß". Es ist der Kampf um ein Stückchen Grammatik am Ende eines Wortes. Es geht um die Vernichtung des generischen Maskulinums.

Die Mehrheit der Gesellschaft versteht plötzlich ihre Nachrichtensprecher nicht mehr (oder will sie nicht mehr verstehen). Wer in die Wohnungen hinein horcht, wer auf der Straße, in Bäckereien, in Supermärkten den Gesprächen der Menschen lauscht, der merkt von dem Sprachwandel nichts. An der Alltagskommunikation scheint dieser Wandel bisher noch vorbei zu ziehen, ebenfalls in Gesprächen unter Kollegen am Arbeitsplatz. 

Abschlussveranstaltung eines Abiturjahrgangs 2021, Sporthalle statt Aula, coronagerechte Bestuhlung: Bevor es zur Zeugnisübergabe kommt, ein Rahmenprogramm mit Festreden. Alle haben sich fein zurecht gemacht. Es spricht die Schulleitung, die Sek-II-Leitung, der Ortsbürgermeister, die Tutoren, die Schülervertretung, der Schulelternrat. In Ihren vorbereiteten Reden ist von den großartigen Leistungen der Schülerinnen und Schüler, der Abiturientinnen und Abiturienten, und dem unermüdlichen Einsatz der Lehrerinnen und Lehrer die Rede. Gelegentlich fällt der Begriff Lehrerinnen, obwohl eigentlich beide Geschlechter gemeint sein müssten. Auf dem Manuskript steht möglicherweise "Lehrer*innen". Gelegentlich fallen ein paar Worte außerhalb des Manuskripts und da ist dann von Schülern und Lehrern die Rede. Irgendwie klingt die "geschlechtergerechte" Sprache aufgesetzt. Eine gekünstelte Sprache von Vertretern eines Publikums aus Schülern, Lehrern, Eltern und Freunden an dasselbe Publikum, das außerhalb der Festreden kein bisschen untereinander gendert. Gendern hat hier irgendetwas von sprachlicher Kleiderordnung.

Der Wandel liegt irgendwie in der Luft. Gendern ist schon lange keine bloße Angelegenheit feministischer Aktivisten mehr. Vielmehr ist Gendern unter dem Label "geschlechtergerechte Sprache" im Jahre 2021 eine Errungenschaft der Genderbürokratie, die in Rathäusern, Universitäten und anderen öffentlichen Einrichtungen institutionell fest verankert ist. Auf Menschen, die diese Institutionen vertreten und meinen, eine Vorbildfunktion innezuhaben – dazu zählen auch die offiziellen Redner der Abi-Abschlussveranstaltung – lastet offensichtlich ein großer Druck, sich der Genderbürokratie zu unterwerfen. Andere glauben wirklich dran und eifern um Teilhabe an diesem Sprachwandel. Für sie schafft Gendern ein gutes Gefühl moralischer Zufriedenheit. Man ist auf der Seite der Guten und der Fortschrittlichen. Man macht deutlich, dass man niemanden ausschließen möchte und gibt denjenigen, die sich dem Sprachwandel widersetzen, ein unwohles Gefühl. Insofern ordnen sich immer mehr Menschen, die im Lichte der Öffentlichkeit und der Repräsentanz einer Institution stehen, dem unausgesprochenen Zwang unter.

Ob es Opportunismus gegenüber der Genderbürokratie ist, der die Menschen den Sprachwandlern nacheifern lässt, oder Überzeugung, lässt sich kaum ausmachen.

Zurück in der Gegenwart

Im Licht der Gegenwart bleibt das Groteske im Hintergrund verborgen. Was die Zukunft möglicherweise im Rückblick als absurd bezeichnen wird, ist in der Gegenwart realer Gegenstand eines ernst gemeinten Diskurses, geführt durch respektierte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens auf Basis nachvollziehbarer Argumente. Ob das geschlechtsaufspaltende Gendern mit all seinen sonderzeichenbehafteten Facetten in Zukunft tatsächlich als grotesk erscheinen wird oder als natürliche Konsequenz einer sich weiterentwickelnden Sprache, wissen wir nicht. Insofern begeben wir uns nun in den Diskurs der Gegenwart.

Es klingt absolut plausibel, wenn Genderbefürworter unter den Linguisten anführen, die generische grammatische Form für Personen ist nicht zufällig meist identisch mit dem maskulinen Geschlecht. Irgendwie spiegelt sich darin die viele Jahrhunderte alte gesellschaftliche Dominanz der Männer wider. Ferner ist es nachvollziehbar, wenn bei Verwendung des generischen Maskulinums theoretisch und möglicherweise mehr Männer als Frauen gedacht werden. Als Beleg führen Genderbefürworter gern wissenschaftliche Experimente an.
Das sind aber Experimente unter Laborbedingungen. Wie ausgeprägt diese Tendenz aber in der Praxis ist, hängt wohl eher davon ab, wie stark Männer in der Realität unter dem jeweiligen generischen Begriff vorkommen. Bei Bauarbeitern wird deutlich die Vorstellung von Männern geweckt, bei Mitbürgern oder Lehrern erscheint mir das ausgeglichen. Sprache formt sicherlich unser Denken mit. Aber vielmehr formt doch wohl Realität unser Denken und damit auch die Inhalte von Begriffen unserer Sprache. Ob sich Frauen in den Bürgern eines Landes mitgedacht fühlen, hängt doch wohl eher davon ab, welche gesellschaftlichen Mitspracherechte sie haben. Fakt ist, mit oder ohne Gendern ändert sich die Gesellschaft in Richtung Gleichberechtigung der Frau, und das ist gut so.

Sehr geehrte Damen und Herren, Liebe Leserinnen und Leser: In der Anrede finde ich die paarige geschlechtliche Aufspaltung gut und richtig. Beide Geschlechter sind explizit angesprochen, und es klingt vertraut. Und wenn jemand Geschlechtlichkeit jenseits des Binären explizit ansprechen möchte, statt sie implizit mitzudenken, könnte er das mit "Sehr geehrte Damen bis Herren, Liebe Leserinnen bis Leser" tun. Ein Sonderzeichen ist hierfür nicht erforderlich. Im Hauptteil eines Textes, wenn Personen nicht angesprochen werden, sondern über sie gesprochen wird, würde ich mir wünschen, dass geschlechtliche Aufspaltungen sehr sparsam vorgenommen werden, wenn zum Verstehen des Sachverhalts das Geschlecht keine Rolle spielt. Als gelegentliches Stilmittel mag eine explizite Nennung von Geschlechtern in Ordnung sein. Wird die Nennung beider Geschlechter allerdings konsequent ständig vorgenommen, dann klingt ein Text stumpfsinnig.

Wenn dem Gendern wohl gesinnte Linguisten, dem grammatischen Maskulinum seine generische Funktion absprechen, dann widerspricht das einem Grundprinzip unserer kognitiven Verarbeitung von Informationen. Wir denken die Dinge unserer Umwelt üblicherweise vielschichtig zusammen und spalten erst dann auf, wenn dies im Kontext des Begreifens, Schließens und Aussagens erforderlich ist. So fassen wir Buchen, Eichen und Kastanien zu Laubbäumen, Laubbäume und Nadelbäume zu Bäumen und eine Vielzahl von Bäumen zu Wald zusammen. Und genauso fassen wir Menschen unabhängig vom Geschlecht zu Begriffen zusammen, wenn das Geschlechtliche im Kontext des zu verstehenden Textes oder der zu treffenden Aussage keine Rolle spielt. Wenn von Mitgliedern gesprochen wird, dann scheint niemand das Bedürfnis zu verspüren, von weiblichen und männlichen Mitgliedern zu sprechen. Ist hingegen von Wissenschaftlern die Rede, so meinen Genderbefürworter diese in Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aufspalten zu müssen.

Jede geschlechtsaufspaltende Darstellung von Menschen in einem Kontext, in dem das Geschlecht keine Rolle spielt, hebt jedesmal die Existenz zweier Gruppen hervor und suggeriert implizit, dass eine Gruppe (die Frauen) benachteiligt ist und mit erwähnt werden muss, damit sie nicht untergeht. Das ist vermutlich mit ein Grund, warum viele Leserinnen und Leser ständig sich wiederholende geschlechtsaufspaltende Paarformen in Sachtexten als störend und stumpfsinnig empfinden, wobei diese Schreibweise nicht nur bei Politikerinnen und Politikern sehr beliebt ist, sondern auch bei vielen Journalistinnen und Journalisten und Redakteurinnen und Redakteuren. Wer die Stumpfsinnigkeit in den letzten Zeilen noch nicht gespürt hat, der möge gegenderte Gesetzes- und Behördentexte studieren. Darüber hinaus werden durch jede paarweise Aufspaltung in Mann und Frau geschlechtlich sich nicht binär verstehende Menschen implizit ausgeschlossen. Das ist ungerecht und vom Prinzip her fragwürdig, wurde doch 2018 die Kategorie "divers" vom Gesetzgeber als "drittes Geschlecht" in das Personenstandsregister eingeführt.

Die aktuell verwendeten Sonderzeichenformen (z.B. Bürger*innen, Leser_innen) spalten nun in drei Geschlechter auf. Bzw. in zwei Geschlechter und eine Gruppe, die sich nicht einer der binären Geschlechtergruppen zugehörig fühlt. Das mag nun gerechter erscheinen, weil nun "diverse" Menschen nicht implizit ausgeschlossen sind wie bei der vorher dargestellten geschlechtlichen Paarbildung. Doch ist diese zwittrige Wortbildung überhaupt nicht kompatibel mit der Grammatik der Deutschen Sprache, auch wenn das im Plural irgendwie verdrängt werden kann. Im Singular, liebe*r Leser*in wird es schwierig, insbesondere, wenn man das Geschriebene auch sprechen möchte. Außerdem suggeriert die Endung "in" oder "innen" das weibliche Geschlecht. Daran ändert auch ein kurzes Innehalten vor dem "innen" nicht. Bei Bürger*innen mag man das noch wegdiskutieren können, wenn die Sprechpause lang genug ist. Bei Kolleg*innen ist die linguistische Cancelung des Männlichen eindeutig; oder heißt es gendergrammatikalisch scheinkorrekt etwa Kollegen*innen?

Ein völlig anderes Konzept, das generische Maskulinum zu umgehen ist die Partizipienbildung und die Nutzung von Sachbegriffen. Dies ist ein von der geschlechtlichen Aufspaltung grundverschiedenes stilistisches Konzept, und so ist es verwunderlich, dass beide Formen häufig in Texten gemeinsam auftreten. Die geschlechtsneutrale Sprech- und Schreibweise ist meines Erachtens noch fraglicher wie die geschlechtsaufspaltende. Hier werden bestehenden Begriffen neue Inhalte zugeteilt, was zu einer Auswaschung der Sprache führt. Der Begriff Student impliziert vielmehr als eine Person, die am Schreibtisch sitzt und büffelt. Studierender wirkt auf mich entseelt, irgendwie veramtstdeutscht. Die Studierendenbewegung der 68er klingt belanglos. Gefährlich wird es, wenn zwischen Busfahrer und Busfahrendem nicht mehr unterschieden wird.

Neutralisierendes Gendern cancelt nicht nur eine grammatische Form - das generische Maskulinum. Vielmehr cancelt es den Menschen in Begriffen. Fühlt sich eine Studentin wirklich besser, wenn sie mit ihren Kommilitonen in Partizipien verwandelt und so zu Studierenden zusammengefasst wird statt zu Studenten? Unter Studenten bleibt sie immerhin noch Mensch. Wir erinnern uns an das von den Genderbefürwortern vorgebrachte Argument, Sprache beeinflusst unser Denken. Lehrkraft statt Lehrer klingt wie Arbeitskraft, eine Sache und keine Person, ökonomisch gesehen der Produktionsfaktor Arbeit in einer Lernfabrik namens Schule. Wo bleibt hier das Menschliche, das in Lehrer oder Lehrerin mitklingt, wo bleibt der Respekt vor diesen Menschen, die unsere Kinder erziehen und über viele Jahre engagiert begleiten?

Gendern kann auch extrem verstörend sein, wenn z.B. in einem Sachtext über den Holocaust an den Jüdinnen und Juden die Rede ist oder von der Atombombe über Hiroshima, die hundertausende Japaner*innen das Leben gekostet hat. Das Verstörende ist, dass einem grausamen Sachverhalt der Geschichte, mit dem sich der Text auseinandersetzt, implizit ein ideologisches Thema der Gegenwart überlagert wird, das im Vergleich zu dem eigentlichen Thema des Textes belanglos ist.